Kann Telematik das heutige Tarifsystem ersetzen?
Monika Lier, VWheute, vom 3. September 2020
Telematik-Tarife werden zwar bislang mehr diskutiert als verkauft, das Interesse unter den Fachleuten bleibt aber hoch. Am Online-Format der traditionellen Veranstaltung „K-Tagung“ von Meyerthole Siems Kohlruss Gesellschaft für aktuarielle Beratung mbH (MSK) und dem Rückversicherer Scor nahm praktisch der gesamte Markt teil.
„Wir haben einen Rekord von 170 angemeldeten Teilnehmern“, sagte MSK-Geschäftsführer Onnen Siems. „Diese Teilnehmer repräsentieren rund 98 des deutschen Kraftmarktes (gemessen an den K-Beiträgen) und 61 Prozent des österreichischen Marktes“.
MSK und Scor verfolgen seit 2017 den Aufbau eines Datenpools für Telematik. „Wer noch in diesem Jahr einen Telematik-Tarif anbieten möchte – wir stehen in den Startlöchern“, warb Aktuarin Nicole Hustig von der Scor. An einem vorangegangenen Workshop hatten sich nach Unternehmensangaben zwölf Versicherer beteiligt, die auch ihre Absicht an einer Poolmitgliedschaft bekundet haben.
Die kostenlose Testphase startet nun mit sechs K-Versicherern und ist offen für weitere Versicherer mit jeweils bis zu 100 Testfahrern. 2021 sollen den Teilnehmern unverbindliche Scoring- und Risikomodelle angeboten werden. Der operative Betrieb ist für Oktober 2021 geplant.
Datenpool auf eine Million PKW ausbauen
Den teilnehmenden Versicherern will man ein „Rundum-Sorglos-Paket“ anbieten. Scor und MSK werden sich aber nur auf die Verarbeitung, Speicherung und Auswertung der Daten sowie die aktuariellen Analysen konzentrieren und für alle Aufgaben wie Recht und Technik mit Dritten kooperieren.
Mittelfristig soll der Datenpool auf einen Bestand von einer Million PKW ausgebaut werden. Damit soll dann ein Datenvolumen im einstelligen Petabytebereich gemanagt werden. Damit stünden dann sicherlich ausreichend Informationen für die Kalkulation von Tarifen zur Verfügung – und um die Frage zu beantworten, ob die Branche diese Tarifvariante überhaupt braucht bzw. ob sie sich rechnet.
Nach Einschätzung von Carina Götzen, Aktuarin und leitende Beraterin bei MSK, haben Telematik-Tarif „das Potenzial, um das heutige Tarifsystem zu ersetzen.“ Das Modell von MSK und Scor arbeitet mit einer App und einem auf die Windschutzscheibe anzubringenden Sensor, der auch Beschleunigung ohne Smartphone aufnimmt. Damit will man ausschließen, dass nur achtsame Fahrten an den Versicherer gemeldet werden.
Bislang fließen in den Scorewert das Verhalten bei Beschleunigung, Bremsen, Tempo und die Tageszeit ein. Die App soll mit den Teilnehmern in „agiler Methode“ entwickelt werden. Geplant sind zur Weiterentwicklung auch die Einbindung externer Daten und Marktforschung darüber, was Verbraucher erwarten.
Rund 135 Millionen Fahrten mit 1,8 Mrd. Kilometern sind bereits erfasst worden
Für Thomas Körzdörfer, Leiter Telematik Analytics, Huk-Coburg Datenservice und Dienstleistungen, bietet der Telematik-Baustein seines Hauses „höchst relevante Zusatzinformation. Wir glauben deutlich besser werden zu können“, sagte er mit Blick auf die Schadenquote. Nach aktuellen Angaben kommt die Huk-Coburg-Gruppe auf knapp 270.000 Verträgen mit Telematik-Baustein.
Rund 135 Millionen Fahrten mit 1,8 Milliarden Kilometer sind bereits erfasst worden, was 340 Terra Byte Daten entspricht. Diese Verträge verursachten bislang 7.500 Schäden. Neukunden gewährt die Huk-Coburg im ersten Jahr zehn Prozent Rabatt. Nach einem Jahr wären mit einem guten Fahrwert bis zu 30 Prozent Nachlass möglich. Die Mehrzahl der Kunden habe aktuell einen Rabatt zwischen zehn und 20 Prozent.
Bremsen, Lenken, Tempo und Beschleunigung sowie gefährliche Nutzung des Smartphones bestimmen derzeit den Fahrwert. Die Tageszeit oder die Umgebung spielen nur bei auffälligem Fahrverhalten eine Rolle. Die Ergebnisse: Die fünf Prozent Fahrer mit dem niedrigsten Score verursachen neun Mal mehr Schäden als die fünf Prozent mit dem höchsten. 40 Prozent der Unfälle sind den 20 Prozent zuzuordnen, die die geringsten Scorewerte haben.
Fahrer mit häufiger Tempolimitüberschreitung im mittleren Bereich weisen eine erhöhte Unfallhäufigkeit auf. Gleiches gelte für Fahrer, die bei an sich niedrigen Geschwindigkeiten, hoch beschleunigten oder oft hart abbremsen müssten. Fahrassistenten wirkten sich mit Ausnahme von Bremshilfen nicht auf die Unfallhäufigkeit aus.